Zur Schätzung des Auftragswertes bei Teilprojekten

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Zur Schätzung des Auftragswertes bei Teilprojekten
Beschluss der Vergabekammer Rheinland, VK 12/24 – B vom 8. Mai 2024

Gemäß § 106 Abs. 1 GWB gilt der das Verfahren vor den Vergabekammern regelnde Vierte Teil des GWB nur für Vergaben, deren geschätzter Auftragswert die EU-Schwellenwerte erreicht bzw. überschreitet.

Die Kostenschätzung des Auftraggebers muss auf ordnungsgemäß und sorgfältig ermittelten Grundlagen beruhen. Diesen Anforderungen entspricht die Kostenschätzung des Auftraggebers vorliegend. Er hat seine Auftragswertschätzung auf ein im Vorfeld der Ausschreibung durch einen auf Betonsanierung spezialisierten Fachingenieur erstelltes, anhand der aktuellen Marktpreise bepreistes Leistungsverzeichnis gestützt.

Ein Indiz dafür, dass der unter dem Schwellenwert liegende Wert wirklichkeitsnah ist, ergibt sich aus den Netto- Angebotssummen, die die Bieter benannt haben.

Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 VgV ist bei der Schätzung des Auftragswertes vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Maßgeblicher Grundsatz für die schätzweise Gesamtermittlung ist eine funktionelle Betrachtungsweise.

Im Hinblick auf die Schätzung eines Auftragswerts ist eine Aufteilung nicht gerechtfertigt, wenn die aufgeteilte Leistung im Hinblick auf ihre technische und wirtschaftliche Funktion einen einheitlichen Charakter aufweist. Ein solcher Zusammenhang liegt z. B. vor, wenn Baumaßnahmen ohne jeweils andere Bauabschnitte keine sinnvolle Funktion erfüllen können. Er besteht jedoch z. B. nicht, wenn spätere Ausbauarbeiten erst in Planung sind und/oder ihre künftige Ausführung ungewiss ist.

Auch bei komplexen Bauvorhaben, die in verschiedenen Phasen realisiert werden, handelt es sich dann nicht um ein Gesamtbauwerk, wenn die unterschiedlichen baulichen Anlagen ohne Beeinträchtigung ihrer Vollständigkeit und Benutzbarkeit auch getrennt voneinander errichtet werden können.

Gegenstand des Verfahrens war vor allem die Frage der Schätzung des Schwellenwertes bei einem Bauauftrag und konkret die Frage, ob die Fassadensanierung eines Gebäudes, das Teil eines Campus ist, dessen weitere Gebäude nacheinander saniert werden sollen, national ausgeschrieben werden durfte oder als Teil eines Gesamtauftrags hätte europaweit ausgeschrieben werden müssen.

Sachverhalt:
Der Auftraggeber schrieb die Betonsanierung einer Fassade an einem Gebäude national öffentlich aus. Das Gebäude ist Teil einer Universität, an der nach und nach die Gebäude saniert werden. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Nach Angebotsöffnung teilte der Auftraggeber den Bietern, darunter der Antragstellerin, das Ausschreibungsergebnis unter Nennung der teilnehmenden Bieter sowie deren ungeprüfter Angebotsendsummen (netto und brutto) mit.

Nachdem sich bei der Angebotsprüfung herausgestellt hatte, dass die  Leistungsbeschreibung zu mehreren Positionen, insbesondere zum Gerüstbau, uneindeutig war, hob der Auftraggeber die Ausschreibung wegen nicht vergleichbarer und somit nicht wertbarer Angebote auf. Anschließend versetzte er das Verfahren in den Stand vor Angebotsabgabe zurück, überarbeitete die Leistungsbeschreibung/das Leistungsverzeichnis in wesentlichen Teilen und forderte die Bieter erneut zur Angebotsabgabe auf.

Die Antragstellerin sowie weitere Bieter – die nicht vollständig identisch sind mit denjenigen, die im „ersten Anlauf“ mitgeboten hatten – gaben hierauf ein Angebot ab. Der Auftraggeber teilte den Bietern das Ausschreibungsergebnis wiederum unter Nennung der teilnehmenden Bieter sowie deren ungeprüfter Angebotsendsummen (netto und brutto) mit. Das Angebot des Unternehmens G. war am günstigsten, gefolgt vom Angebot der Antragstellerin.

Nachdem die Antragstellerin vergeblich gerügt hatte, die Wiederholung der Ausschreibung sei nicht nachvollziehbar und das Vergabeverfahren hätte nicht nach § 17 EU Abs. 1 VOB/A aufgehoben werden dürfen, weil keiner der dort geregelten Aufhebungsgründe erfüllt sei, beantragte sie die Nachprüfung. Sie ist zudem der Ansicht, das nur national durchgeführte Vergabeverfahren sei unzulässig. Der Auftraggeber habe den Gesamtauftrag zur Umgehung vergaberechtlicher Pflichten in verschiedene Verträge aufgeteilt. Es fehle die erforderliche Begründung dafür, wie er zu einem geschätzten Auftragswert gekommen sei, der unter dem EU-Schwellenwert liege.

Nach Ansicht der Vergabekammer Rheinland ist der Nachprüfungsantrag unstatthaft.

Aus den Gründen:
Gemäß § 106 Abs. 1 GWB gelte der das Verfahren vor den Vergabekammern regelnde Vierte Teil des GWB nur für Vergaben, deren geschätzter Auftragswert die EU-Schwellenwerte erreiche bzw. überschreite. Sei Letzteres nicht der Fall, sei das dort geregelte Nachprüfungsverfahren unstatthaft und der Rechtsweg zu den Vergabekammern nicht eröffnet. Vorliegend überschreite der geschätzte Auftragswert des Bauauftrags i. S. v. § 103 Abs. 3 GWB den Schwellenwert nicht.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Ermittlung des Schwellenwertes sowie die Schätzung des Auftragswertes sei der Zeitpunkt, in dem das Vergabeverfahren eingeleitet werde. Dies sei vorliegend die Aufforderung zur Abgabe eines Angebots im Jahr 2023 gewesen. Der zu diesem Zeitpunkt geltende Schwellenwert für Bauaufträge i. S. v. § 103 Abs. 3 GWB habe gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. Artikel 4 Richtlinie 2014/24/EU 5.382.000 Euro (netto) betragen. Der vom Auftraggeber geschätzte Netto-Auftragswert habe erheblich unter diesem Schwellenwert gelegen. Es bestünden keine Bedenken hinsichtlich der ordnungsgemäßen Auftragswertschätzung durch den Auftraggeber.

Nach § 3 Abs. 1 S. 1 VgV sei bei der Schätzung des Auftragswerts vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Dabei komme dem Auftraggeber bei der Ermittlung des Auftragswertes ein Beurteilungsspielraum zu, den die Nachprüfungsorgane nur eingeschränkt kontrollieren könnten.

Die Kostenschätzung des Auftraggebers beruhe auf ordnungsgemäß und sorgfältig ermittelten Grundlagen. Dieser habe seine Auftragswertschätzung auf ein im Vorfeld der Ausschreibung durch einen auf Betonsanierung spezialisierten Fachingenieur erstelltes, anhand der aktuellen Marktpreise bepreistes Leistungsverzeichnis gestützt. Die Gegenstände der Schätzung und der ausgeschriebenen Maßnahme seien somit deckungsgleich, die eingesetzten Preise aktuell. Der so ermittelte Auftragswert habe 3.188.775 Euro netto betragen und damit weit unter dem Schwellenwert gelegen. Ein Indiz dafür, dass der unter dem Schwellenwert liegende Wert wirklichkeitsnah sei, ergebe sich aus den Netto-Angebotssummen der Bieter. Diese lägen bei der „1. Angebotsrunde“, d. h. den Angeboten vor Rückversetzung des Verfahrens, bis auf einen Extrem- Ausreißer alle unter dem Schwellenwert. Auch bei der „2. Angebotsrunde“, d. h. den Angeboten nach Rückversetzung des Verfahrens, lägen vier von sechs Angeboten unter dem Schwellenwert.

Der vorliegend streitgegenständliche Auftrag sei auch nicht nur ein Teillos einer Gesamtvergabe „Sanierung der Universität“, sodass hinsichtlich der Schätzung des Auftragswertes die Gesamtkosten der Sanierung sämtlicher Universitätsgebäude bzw. zumindest diejenigen der mit dem streitgegenständlichen Gebäude in Verbindung stehenden Gebäudeteile hätten herangezogen werden müssen.

Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 VgV sei bei der Schätzung des Auftragswertes vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Maßgeblicher Grundsatz für die schätzweise Gesamtermittlung ist eine funktionelle Betrachtungsweise. Nach der EuGH-Rechtsprechung sei im Hinblick auf die Schätzung eines Auftragswerts eine Aufteilung nicht gerechtfertigt, wenn die aufgeteilte Leistung im Hinblick auf ihre technische und wirtschaftliche Funktion einen einheitlichen Charakter auf weise. Ob Teilaufträge untereinander auf eine Weise verbunden seien, dass sie als ein einheitlicher Auftrag anzusehen seien, bemesse sich nach ihren organisatorischen, inhaltlichen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenhängen.

Ein solcher Zusammenhang aufgrund einer funktionellen Betrachtungsweise liege z. B. vor, wenn Baumaßnahmen ohne jeweils andere Bauabschnitte keine sinnvolle Funktion erfüllen könnten, sodass eine Aufteilung nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt werden könne.

Maßgeblich für die Frage, ob ein wirtschaftlicher und/oder technisch-funktioneller Zusammenhang besteht, sei, ob die Beschaffung eines Teils ohne den anderen einen Sinn mache. Ein solcher Zusammenhang bestehe z. B. nicht, wenn spätere Ausbauarbeiten erst in Planung seien und/ oder ihre künftige Ausführung ungewiss sei. Auch bei komplexen Bauvorhaben, die in verschiedenen Phasen realisiert würden, handle es sich dann nicht um ein Gesamtbauwerk, wenn die unterschiedlichen baulichen Anlagen ohne Beeinträchtigung ihrer Vollständigkeit und Benutzbarkeit auch getrennt voneinander errichtet werden könnten.

Nach Ansicht der Vergabekammer steht die Fassadensanierung des hier betreffenden Gebäudeteils nicht in einem wirtschaftlich oder technisch-funktionellen Zusammenhang mit den weiteren Sanierungsmaßnahmen. Die Fassadensanierung sei für sich allein eine abgeschlossene Maßnahme, die von weiteren Sanierungsmaßnahmen klar trennbar sei und auch ohne die weiteren Sanierungsmaßnahmen ihren Zweck erfülle. Es sei nicht ersichtlich, dass der Sanierung der Universität ein Gesamtplan zugrunde liege, von dem die hier in Rede stehende Fassadensanierung des Gebäudes nur ein Teilauftrag sei. So bestehe keine umfassende Genehmigung der Komplettsanierung (ähnlich einem „Planfeststellungsbeschluss“ für eine Gesamtmaßnahme). Doch selbst wenn der Auftraggeber bereits planerische Vorstellungen von der Gesamtsanierung der Universität hätte, sei dies kein Kriterium für einen einheitlichen Bauauftrag. Ebenso wenig sieht die Vergabekammer Anhaltspunkte dafür, dass bereits Haushaltsmittel für die Gesamtsanierung zur Verfügung stehen. Aus dem Vergabevermerk des Auftraggebers ergebe sich vielmehr, dass nur Mittel verfügbar oder über Verpflichtungsermächtigungen abgesichert seien, die die streitgegenständliche, unter dem EU-Schwellenwert liegende Fassadensanierung abdecken. Ferner zeige schon der lange Zeitraum der Sanierungsarbeiten von 2011 bis 2024, dass es sich hier nicht um einen Gesamtauftrag handeln könne. Auch dass die bereits sanierte Fassade eines Gebäudemoduls eine „Musterfassade“ sei, spreche nicht dafür, von einem Gesamtauftrag „Fassadensanierung“ für alle Gebäude der Universität auszugehen, da die „neue Außenhülle der Uni“ nur „so ähnlich“ gestaltet werden solle.

Aufgrund der plausiblen Auftragswertermittlung durch den Auftraggeber sowie der von anderen Sanierungsmaßnahmen klar abgrenzbaren Fassadensanierung könne die Vergabekammer auch keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass der Auftraggeber gegen § 3 Abs. 2 VgV verstoßen hätte, d. h. die Bestimmungen des GWB-Vergaberechts bewusst hätte umgehen wollen.

Obwohl es aufgrund der Unstatthaftigkeit des Nachprüfungsantrags hierauf nicht mehr ankommt, weist die Vergabekammer darauf hin, dass der Nachprüfungsantrag auch unbegründet sein dürfte.

Die Zuschlagserteilung an G. dürfte vergaberechtskonform sein. Zwar müsse der öffentliche Auftraggeber bei einem unangemessen niedrig erscheinenden Angebotspreis Aufklärungsmaßnahmen vornehmen, vgl. § 16d Abs. 1 Nr. 2 VOB/A (§ 16d EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A). Diese sog. „Aufgreifschwelle“ liege nach herrschender Rechtsauffassung i. d. R. bei einem Preisabstand von 20 Prozent zum nächsthöheren Angebot. Da das Angebot von G. nur geringfügig unter dem Angebot der Antragstellerin liege, dürfte die Aufgreifschwelle schon nicht erreicht sein. Dies könne jedoch dahingestellt bleiben, da der Auftraggeber sich von G. detailliert habe erläutern lassen, wie der niedrige Angebotspreis zustande gekommen sei, mithin eine Angebotsaufklärung durchgeführt und deren Ergebnis im Rahmen seines Wertungsspielraums als plausibel angesehen habe.

Auch die Rückversetzung des Verfahrens durch den Auftraggeber dürfte mit Vergaberecht in Einklang stehen. Nach § 17 VOB/A (§ 17 EU VOB/A) könne die Ausschreibung u. a. dann aufgehoben werden, wenn die Vergabeunterlagen grundlegend geändert werden müssen. Dies dürfte der Fall sein, wenn das Leistungsverzeichnis in Anpassung an eine aktualisierte DIN-Norm (hier: ATV DIN 18451) in wesentlichen Teilen überarbeitet werden müsse, da das Leistungsverzeichnis Kalkulationsgrundlage für die Angebote sei. Seiner diesbezüglichen Mitteilungspflicht nach § 17 Abs. 2 VOB/A (§ 17 EU Abs. 2 VOB/A) sei der Auftraggeber durch ein Schreiben an alle Bieter nachgekommen.

Praktische Auswirkungen:
Die Vergabekammer gibt konkrete Anhaltspunkte, unter welchen Voraussetzungen ein Gesamtwert geschätzt werden kann, der den EU-Schwellenwert erreicht und damit
vorliegend die Statthaftigkeit des Nachprüfungsantrages begründet hätte. Maßgeblich für die schätzweise Gesamtermittlung ist eine funktionelle Betrachtungsweise. Bei der Schätzung eines Auftragswerts ist eine Aufteilung danach nicht gerechtfertigt, wenn die aufgeteilte Leistung im Hinblick auf ihre technische und wirtschaftliche Funktion einen einheitlichen Charakter aufweist. Als Beispiel hierfür nennt die Vergabekammer Baumaßnahmen, die ohne jeweils andere Bauabschnitte keine sinnvolle Funktion erfüllen können. Ein einheitlicher Charakter besteht indes z. B. nicht, wenn spätere Ausbauarbeiten erst in Planung sind und/oder ihre künftige Ausführung ungewiss ist.

(Quelle: VOBaktuell Heft III/2024
Ass. jur. Anja Mundt)