Fachlos- oder Gesamtvergabe?
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Fachlos- oder Gesamtvergabe?
Beschluss der Vergabekammer des Bundes, VK 2 – 9/24 vom 21. Februar 2024
Es ist grundsätzlich ein Fachlos i. S. d. § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB zu bilden, wenn es sich bei einer Teilleistung um einen eigenständigen fachlichen Markt mit Unternehmen handelt, die ausschließlich in diesem Segment tätig sind.
Erhöhte Unfallgefahren im Baustellenbereich, volkswirtschaftliche Nachteile infolge von Zeitverlust durch Staugeschehen, ökologische Nachteile durch vermehrte staubedingte Emissionen sowie erhöhte Lärm- und Abgasbelastungen sind Gründe, vom Grundsatz der Fachlosvergabe gerechtfertigt abzuweichen, wenn nicht ein allgemeines, sondern ein streckenabschnittbedingtes spezifisches Beschleunigungsinteresse vorliegt.
Zu prüfen ist, ob der Verzicht auf die Fachlosvergabe auch gemessen am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB, im konkreten Fall erforderlich und nicht zu beanstanden ist.
Stellt ein Autraggeber mit dem „Verfügbarkeitskostenmodell“ die Bauzeit in den Wettbewerb, indem die bietenden Bauunternehmen die von ihnen für erforderlich gehaltene exakte Bauzeit individuell berechnen, kommt für eine Losvergabe der passiven Schutzeinrichtungen nur ein der Bauvergabe zeitlich nachfolgendes Vergabeverfahren in Betracht, das den Beginn der Baumaßnahmen erheblich verzögern würde, weil die Bauausführung erst beginnen könnte, wenn auch das Fachlos vergeben ist.
In dem Verfahren vor der 2. Vergabekammer des Bundes ging es um eine unterbliebene Fachlosaufteilung.
Sachverhalt:
Die Auftraggeberin schrieb Bauarbeiten unionsweit aus. Unter anderem sollten rd. 90.000 m2 Asphaltfahrbahn grundhaft erneuert, 14.000 m Fahrbahnrückhaltesysteme erneuert, eine 3-1-Verkehrsführung über eine Baustellenlänge von 7,8 km auf-, um- und abgebaut sowie ca. 21.000 m Weißmarkierung hergestellt werden.
Der betroffene Streckenabschnitt ist stark frequentiert und wird nach einer im Jahr 2021 durchgeführten Verkehrszählung an jedem Tag von durchschnittlich ca. 75.000 Pkw und ca. 10.000 Lkw befahren. Der aktuell vierspurig befahrbare Streckenabschnitt betrifft eine der Hauptverkehrsachsen. Der Bundesverkehrswegeplan 2030 (BVWP 2030) weist den beabsichtigten sechsspurigen Ausbau mit der Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher Bedarf – Engpassbeseitigung“ (VP-E) aus.
Die Auftraggeberin schrieb den Auftrag im Wege einer Gesamtvergabe i. V. m. dem sog. Verfügbarkeitskostenmodell aus. Auf die Aufteilung in Fachlose (Verkehrssicherung, Markierung, passive Schutzeinrichtungen) verzichtete sie, um Synergieeffekte zu erzielen und die Bauzeit so gering wie möglich zu halten. Die Gründe für die Gesamtvergabe dokumentierte sie im Vermerk „Verzicht auf Fachlosgabe“ und führte als wesentliche Gründe dort verkürzte Bauzeit bei Anwendung des Verfügbarkeitskostenmodells, Partizipation der Fachlos-Auftragnehmer an einer möglichen Beschleunigungsvergütung des Generalunternehmers, höhere Wirtschaftlichkeit in der Beschaffung, deutliche Verringerung von Sicherheitsrisiken, Vermeidung von Kompatibilitätsproblemen und erwarteter erheblicher volkswirtschaftlicher Nutzen einer Bauzeitverkürzung an. In dem Vermerk hatte sie die geschätzten Bauzeiten bei den Modellen Gesamtvergabe/Verfügbarkeitskosten (Variante 3), Fachlosvergabe/Verfügbarkeitskosten (Variante 2) und Fachlosvergabe (Variante 1) gegenübergestellt und kam zum Ergebnis, dass die von ihr präferierte Variante 3 die Bauzeit um 21 Tage (gegenüber Variante 2) bzw. 38 Tage (gegenüber Variante 1) verkürzen könnte.
Die Antragstellerin, eine mittelständische Anbieterin von passiven Schutzeinrichtungen, rügte die unterbliebene Aufteilung in Fachlose. Nach § 5 EU Abs. 2 VOB/A seien Bauleistungen nach Fachgebieten getrennt zu vergeben. Technische oder wirtschaftliche Gründe, die eine Ausnahme von der Regelvergabe erlauben würden, seien nicht erkennbar. Die Antragstellerin bat um Erläuterung, warum das Fachlos „Fahrzeugrückhaltesysteme“ nicht als eigenständiges Fachlos ausgeschrieben worden sei.
Nachdem die Auftraggeberin dem Rügevorbringen nicht abgeholfen hatte, stellte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag, weil der Verzicht auf eine losweise Vergabe der ausgeschriebenen Leistungen vergaberechtswidrig sei.
Die Vergabekammer erachtete den Nachprüfungsantrag für zulässig, aber unbegründet. Die Auftraggeberin sei berechtigt gewesen, von einer Losaufteilung abzusehen.
Aus den Gründen:
Der Grundsatz der Losaufteilung in § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB sei vorliegend zwar einschlägig, da es sich bei der Teilleistung „passive Schutzeinrichtung“ um einen eigenständigen fachlichen Markt mit Unternehmen handle, die ausschließlich in diesem Segment des Straßenbaus tätig seien. Daher sei grundsätzlich ein Fachlos zu bilden.
Allerdings erlaube § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB die Gesamtvergabe, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erforderten. Dies habe die Auftraggeberin vorliegend beanstandungsfrei angenommen.
Die Gründe seien insbesondere erhöhte Unfallgefahren im Baustellenbereich, volkswirtschaftliche Nachteile infolge von Zeitverlust durch Staugeschehen sowie ökologische Nachteile durch vermehrte staubedingte Emissionen. Hinzu komme die Notwendigkeit der durchgehenden Sperrung einer Anschlussstelle sowie die zusätzliche Sperrung von Anschlussstellen jeweils an Wochenenden. Der Verkehr müsse daher durch die Städte Rüsselsheim und Königstädten mit dort entsprechend erhöhten Lärm- und Abgasbelastungen umgeleitet werden. Daraus leite die Auftraggeberin das Interesse ab, den Streckenabschnitt schnellstmöglich wieder einschränkungslos verfügbar machen zu wollen.
Die Auftraggeberin sei hier Sachwalterin von Interessen der Allgemeinheit, die teilweise auch in gesetzlichen Vorgaben – so in § 13 Abs. 2 KSG zum Klimaschutz als einem im Vergabeverfahren zu berücksichtigendem Aspekt – Ausdruck gefunden hätten.
Diese hinter dem besonderen Beschleunigungsinteresse stehenden Ziele seien wirtschaftlicher und technischer Natur i. S. v. § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB bzw. gingen – soweit die erhöhte Unfallgefahr betroffen sei – sogar im Sinne eines Erst-recht-Schlusses darüber hinaus, da es um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer gehe. Gleiches gelte, soweit gesundheitliche Aspekte der durch Umleitungen betroffenen Wohnbevölkerung betroffen seien (Lärmbelästigung, zusätzliche Abgasemissionen). Die Vergabekammer hält diese Gründe für geeignet, vom Grundsatz der Fachlosvergabe gerechtfertigt abzuweichen.
Richtig sei zwar, dass die von der Auftraggeberin angeführten Nachteile regelmäßig mit derartigen Baustellen einhergingen, denn diesen seien Verkehrsstaus und unfallträchtige Bereiche immanent. Hier liege aber nicht nur ein allgemeines, sondern ein streckenabschnittbedingt spezifisches Beschleunigungsinteresse mit Bezug zum konkreten Vorhaben vor, wie die Vergabekammer weiter ausführt.
Die Auftraggeberin habe sich schon im Vergabevermerk mit den besonderen Gegebenheiten der streitgegenständlichen Baustelle befasst und durch Verweis auf empirische Quellen wie eine Straßenverkehrszählung nachgewiesen, welche spezifischen, über die allgemeine Baustellenproblematik hinausgehenden Nachteile sich aus der geplanten Baustelle ergeben. Danach stelle der betroffene vierspurige Streckenabschnitt einen der am meisten befahrenen derartigen Abschnitte Deutschlands dar. Die Anzahl der täglichen Fahrzeuge übersteige mit durchschnittlich 85.000 Fahrzeugen im Jahr 2019 und 75.000 in 2021 (coronabedingter Rückgang) deutlich die Kapazität, die für einen vierspurigen Abschnitt als verkraftbar angesehen werde. Nachweislich sei ab täglich 70.000 Fahrzeugen ein sechsspuriger Ausbau erforderlich. Die Bundesregierung habe zudem ein überragendes öffentliches Interesse an dem vorliegenden Projekt festgestellt, der das Land zugestimmt habe. Da der Abschnitt ohnehin extrem stark frequentiert sei, sei das hinter dem besonderen Beschleunigungsinteresse stehende Ziel einer schnellstmöglichen Beendigung der Baumaßnahme für das konkrete Vorhaben legitim.
Der Verzicht auf die Fachlosvergabe sei auch geeignet, eine schnellere Abwicklung des Bauvorhabens zu gewährleisten. Die Beschleunigung werde im Ausgangspunkt dadurch angestrebt, dass die Auftraggeberin mit dem „Verfügbarkeitskostenmodell“ die Bauzeit in den Wettbewerb stelle, indem die Bauunternehmen auf Bieterseite die von ihnen für erforderlich gehaltene exakte Bauzeit individuell berechnen. Je kürzer die angebotene Bauzeit, desto geringer der (fiktive) Wertungspreis. Die individuell angebotene Bauzeit werde Vertragsinhalt mit dem Bauunternehmen als Auftragnehmer.
Wolle die Auftraggeberin bei diesem Ansatz, bei dem die exakte Bauzeit nicht auftraggeberseitig vorgegeben werde, für die passiven Schutzeinrichtungen eine Losvergabe durchführen, so käme nur ein der Bauvergabe zeitlich nachfolgendes Vergabeverfahren in Betracht. Denn der Auftraggeber könne für ein Fachlos keine Ausführungsfrist vorgeben, da diese – im Wettbewerb von den Bauunternehmen anzubieten – erst mit Öffnung der Angebote und letztendlich mit Auftragserteilung an das Bauunternehmen bekannt sei. Eine konsekutive Durchführung von zwei Vergabeverfahren verzögere aber den Beginn der Baumaßnahmen erheblich; der Bauauftragnehmer müsse erst einmal warten mit Beginn der Bauausführung, bis auch das Fachlos vergeben wäre.
Könne aber für das Fachlos keine Ausführungsfrist vorgegeben werden, so sei dies wiederum vergaberechtlich angreifbar unter dem Gesichtspunkt der nicht ausreichenden Bestimmtheit der Leistungsbeschreibung, § 121 GWB. Zudem habe der Bauauftragnehmer beim Verfügbarkeitskostenmodell auch bei der Vertragsdurchführung noch die Möglichkeit, durch weitere Verkürzung der Bauzeit einen Bonus zu erarbeiten. Da die verschiedenen Gewerke auf der Baustelle aber ineinandergriffen, setze diese Möglichkeit voraus, dass der Bauunternehmer die Möglichkeit zu flexiblem Handeln und zu flexibler Absprache mit den anderen Gewerken habe. Diese Möglichkeit sei wahrscheinlicher, wenn das Bauunternehmen selbst Vertragspartner der Fachgewerke sei und die verschiedenen Unternehmen vor Ort auf der Baustelle flexiblere Absprachen treffen könnten, als wenn die Auftraggeberin als Vertragspartnerin der Fachgewerke zwischengeschaltet sei. Flankiert werde die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Bereitschaft der Fachunternehmer zu flexiblem Handeln erhöht werde, durch den Zusatzbonus für schnelleres Arbeiten.
Der Verzicht auf Fachlose sei hier auch „erforderlich“ i. S. v. § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB. Die Erforderlichkeit, aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen von einer Losaufteilung abzusehen, sei als konkrete Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verstehen. Auch gemessen am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB, sei der Verzicht auf die Fachlosvergabe hier erforderlich und nicht zu beanstanden. Die Gesamtvergabe sei nicht unverhältnismäßig.
Zwar wiege das Gebot der Losvergabe bei einer Fachlosvergabe besonders schwer, da die interessierten Fachunternehmen bei einem Losverzicht von der Teilnahme am Vergabewettbewerb gänzlich ausgeschlossen seien. Auch sei die Auftraggeberin ein starker Nachfrager auf dem Markt für passive Schutzeinrichtungen, sodass Unternehmen wie die Antragstellerin von deren Aufträgen in gewisser Weise abhängig seien. Eine gewisse Kompensation entstehe jedoch dadurch, dass der Auftrag rein wirtschaftlich betrachtet in jedem Fall bei den Fachunternehmen ankomme, denn die Bauunternehmen seien nicht auf die Erbringung dieser Leistungen eingerichtet.
Betrachte man das vorliegende Vergabeverfahren nicht isoliert, sondern im Kontext aller Vergabeverfahren der Auftraggeberin, so habe diese deutlich gemacht, dass ca. 90 Prozent aller Bauprojekte konventionell, also losweise ausgeschrieben und beauftragt würden. Der besondere Beschleunigungsansatz werde nach den Einlassungen der Auftraggeberin nur bei Vorhaben mit besonderer Belastung gewählt, wo eine schnelle Abwicklung besonders wichtig sei. Eine verhältnismäßige Anwendung des Ausnahmetatbestands von § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB sei in einer Gesamtschau über alle Vergabeverfahren hinweg damit gewährleistet.
Auch wenn das vorliegende Vergabeverfahren isoliert und für sich genommen betrachtet würde, sei die Gesamtvergabe nicht unverhältnismäßig. Zwar habe die Antragstellerin eine Reihe von anderen Vergabeverfahren der Auftraggeberin aufgezeigt, bei denen dem Grundsatz der Losaufteilung entsprochen und eine zeitliche Flexibilität auf andere Art und Weise hergestellt wurde. Daraus lasse sich jedoch nicht ableiten, dass die vorliegende Vorgehensweise der Auftraggeberin unverhältnismäßig und damit nicht erforderlich i. S. v. § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB wäre. Denn bei den Vergabeverfahren, auf die die Auftraggeberin Bezug nehme, handle es sich gerade nicht um Projekte, die aufgrund einer besonderen Priorisierung über ein allgemeines und stets gegebenes Beschleunigungsinteresse hinausgehen. Es seien eben gerade keine Projekte, in denen das Verfügbarkeitskostenmodell mit der dort gegebenen Besonderheit gewählt worden sei, dass die Bauzeit als solche in den Wettbewerb gestellt werde. Das vorliegende Projekt unterliege hingegen zulässigerweise einer besonderen Priorisierung mit der Folge eines besonderen und spezifischen Beschleunigungsbedürfnisses.
Praktische Auswirkungen:
Die Entscheidung der Vergabekammer verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig eine vollständige und nachvollziehbare Dokumentation – hier konkret für das Unterlassen einer (Fach-)Losaufteilung – ist. Vorliegend kamen viele Faktoren zusammen, um die Gesamtvergabe zu rechtfertigen: Neben der im Straßenbau allgemein gültigen Aspekte, wie erhöhte Unfallgefahr im Baustellenbereich, volkswirtschaftliche Nachteile infolge von Zeitverlust durch Stau, staubedingte Emissionen sowie durch erforderliche Umleitungen verursachte Belastungen, die allein nicht ausreichend wären, waren dies vorliegend die besondere Priorisierung mit der Folge eines besonderen und spezifischen Beschleunigungsbedürfnisses, das gewählte Verfügbarkeitskostenmodell sowie eine verhältnismäßige Anwendung des Ausnahmetatbestands von § 97 Abs. 4 S. 3 GWB in einer Gesamtschau über alle Vergabeverfahren des Auftraggebers hinweg.
(Quelle: VOBaktuell Heft III/2024
Ass. jur. Anja Mundt)